Käseigel, Toast Hawaii und das Geschichtsbewusstsein

Der Festvortrag von Michael Schäfer

P1050740Wer über den Alexander-Preis nachdenkt, stößt binnen kurzem auf ein Problem. Für journalistische Leistungen, die etwas mit der lokalen Historie zu tun haben sollen, muss schon irgend so etwas wie ein Geschichtsbewusstsein entwickelt sein. Dieses Bewusstsein ist mehr als die Bereitschaft, die Vergangenheit zu erforschen, Fakten zu sammeln, denn der Blick in die Geschichte ist keine bloße Rechercheaufgabe. Wer so etwas sinnvoll tun will, braucht viel Einfühlungsvermögen, die Fähigkeit, sich in Zeiten zu versetzen, die er selbst nicht erlebt hat. Vermittler von Geschichte, also beispielsweise Journalisten, die sich mit der Lokalhistorie befassen, müssen ihren Blick auf Emotionen richten und den Wunsch und die Fähigkeit besitzen, diese Emotionen auch anderen zu vermitteln. Nicht in dem Sinne, dass sie dem Leser Gefühle befehlen, sondern dass sie so schreiben, dass sich beim Leser gleichsam von selbst Gefühle einstellen.

Als ich in meinen Überlegungen an dieser Stelle angelangt war, meldete sich unüberhörbar der wohlfeile Kulturpessimismus. Ja früher, so hörte ich bekannte Stimmen in mir argumentieren, da gab es dieses Geschichtsbewusstsein noch. Auf den Schulen vergangener Jahrzehnte wurden noch Geschichtszahlen gelernt, von „753 kroch Rom aus dem Ei“, „333 bei Issus Keilerei“ über die Krönung Karls des Großen, den Untergang des Römischen Reiches, die Entdeckung Amerikas, den Dreißigjährigen Krieg und die Gründung der USA bis zum Wiener Kongress, den Krieg siebzigeinundsiebzig, den Ersten Weltkrieg, dann die schlimme Zeit und die schwere Zeit, die eine nach 33, die andere nach 45. Das haben wir doch noch alles gelernt. Aber die jungen Leute? Die kennen doch höchstens noch die Dauer des 30-jährigen Krieges, aber der Unterschied zwischen Westfälischem Frieden und Westfälischem Schinken verschwimmt bei denen längst. Und ich hatte auch rasch eine Erklärung dafür bereit, weshalb die jungen Leute nicht mehr auf die Idee kommen, den Blick in irgendwelche Vergangenheiten zu lenken. Wer in der Welt von Charts lebt, wer sich stets nur dafür interessiert, was im Moment im Schwange ist, dem ist die Vergangenheit gleichgültig. Wichtig ist, dass man dazugehört. Das tut man, wenn man den Hit auf Platz eins kennt, den angesagtesten Film, das coolste Video, vielleicht auch noch den Sachbuch-Bestseller, sofern es den als E-Book gibt. Alles andere liegt weit vor unserer Zeit, ist längst nicht mehr aktuell, also dementsprechend unwichtig. Nichts ist so alt wie die Zeitung von gestern oder der Bestseller vom Vorjahr.

 

Und ich hatte auch gleich ein paar wohlfeile Beispiele für historische Fehlleistungen aus dem Göttinger Redaktionsalltag parat. Alle Vorfälle liegen Jahrzehnte zurück, die erwähnten Kollegen arbeiten nicht mehr im Tageblatt, deshalb kann ich sie Ihnen erzählen. Da schrieb beispielsweise ein Redakteur in einem Artikel etwas über die Göttinger Münchhausenstraße und erwähnte in diesem Zusammenhang den Lügenbaron mit seinen Aufschneidergeschichten. Sicher, der Kollege kannte alte Bücher, das ehrt ihn. Dass aber der Göttinger Straßennamenspate Münchhausen, nämlich Gerlach Adolph von Münchhausen, viel mit der Universitätsgründung, doch nichts mit dem Ritt auf der Kanonenkugel zu tun hat, war dem Schreiber nicht geläufig. Der Aufschrei der Empörung in der Leserschaft war eindrucksvoll. Das zweite Beispiel hat nicht unmittelbar mit Geschichte zu tun, aber immerhin doch etwas mit bestimmten Kenntnissen der Vergangenheit. Eine Praktikantin war in der Vorweihnachtszeit zur traditionellen Krippenausstellung in die Johanniskirche geschickt worden. Sie stellte in ihrem Artikel anschaulich die Exponate dar und beschrieb die zentrale Szene im Stall von Bethlehem mit Ochs und Esel, den Hirten und dem Jesuskind in der Krippe. Rechts und links vom Baby standen die Eltern. Ihre Namen lauteten, so die Praktikantin, Adam und Eva. Das tut weh, sehr weh. Der Fehler war durch alle Kontrollinstanzen der Redaktion durchgerutscht und stand nun schwarz auf weiß im Blatt. Meine eigene Reaktion war Ärger, Scham für die Zeitung. Übrigens gab es hier zu meiner Überraschung keinen Aufschrei der Leserschaft. Später hat sich mein Groll besänftigt. Zwar war es falsch, was die Autorin geschrieben hatte, aber sie hatte doch immerhin die Namen aus dem richtigen Buch zitiert, wenn auch ein paar Seiten zu weit vorn.

Doch hatte ich ein ungutes Gefühl, was diese verallgemeinernden Urteile über die jungen Leute angeht, die sich manipulieren lassen, keine Interessen mehr haben, nicht lesen, keine Rechtschreibung mehr beherrschen und was man sonst alles an Seufzern in der eigenen Generation hört. Stimmt es denn wirklich, dass jegliches Geschichtsbewusstsein schwindet? Was ist denn mit überhaupt diesem Bewusstsein gemeint?

Wenn wir Älteren auf unsere eigene Schulzeit zurückblicken, stoßen wir in Sachen Bewusstsein auf erhebliche Defizite. Sicher, wir haben einmal Geschichtszahlen gepaukt, von denen – siehe oben – ein paar hängengeblieben sind, wir haben gelernt, unter welchen Herrschern in der Antike welches Volk in welcher Schlacht siegte, dass es drei punische Kriege zwischen den Römern und den Karthagern gab, die sich mal bei den trasimenischen Seen bekämpft haben, bei Cumae und anderswo, ja dass die Römer letztlich den punischen Widerstand gebrochen haben. Aber haben wir damals wirklich etwas über Geschichte erfahren? Über die Lebensumstände von Menschen, über die Art und Weise, wie sie wohnten, aßen, kommunizierten, was bei ihnen in der öffentlichen Meinung obenan stand?

Interessanterweise ist eben dieser Blickwinkel heutzutage durchaus für junge Leute reizvoll. Sie kümmern sich darum, auch wenn sie es wohl nicht Geschichtsbewusstsein nennen, was sie dabei umtreibt. Und der Blick geht auch nicht Jahrhunderte zurück, aber doch Jahrzehnte – jedenfalls, und das ist schon wichtig, in Zeiten, die diese Menschen nicht mehr selbst erlebt haben. Retropartys sind in, man gräbt alte Rezepte aus, man fragt sich, wie das mit dem Toast Hawaii war, welche Modegetränke es damals gab, wie man einen Käseigel bestückt. Wenn Sie in die entsprechenden Internet-Foren klicken, finden Sie eine Fülle von Tipps. Bellabelle im chefkoch.de-Forum am 29. Oktober 2008 um 14.30 Uhr: „Hi, Käseigel mache ich auch oft bei Anlässen und dieser lässt Appetithappen besser gelten als einfach so hingeklatscht. In der Mitte mache ich immer eine Orange uneingewickelt , kannst hinterher immer noch essen und verströmt zugleich leckeren Geruch“. Ein paar Rezeptideen später heißt es:„Im Moment ist wohl Waldpilz, Bio , Glutamatfrei, Bärlauch in? Oder seh ich da was falsch? Mach am besten einen BioKäseigel, glutamatfrei mit Bärlauchpesto.“

Die Tageblatt-Filme über die fünfziger, sechziger und siebziger Jahre sind ein großer Erfolg. Was mich daran besonders bewegt hat, ist die Begeisterung, mit der die Kolleginnen in der Redaktion dieses Projekt betreuen. All das, was sie in mühevoller Kleinarbeit am Schneidetisch aus den eingereichten privaten Filmschnipseln zusammenstellen, ist ja vor ihrer Zeit geschehen, sozusagen pränatale Geschichte.

Im hessischen Büdingen gibt es ein Fünfziger-Jahre-Museum, in dessen Gästebuch sich begeisterte Besucher eingetragen haben. Etwa: „Ist meine Jugendzeit wirklich schon museumsreif?“, „A wonderful trip down memory lane“ oder „Musikbox und heiße Rocker ergänzen Plüsch und Blumenhocker“. In der Selbstdarstellung des Museums steht der Satz „Beim Betreten des Museums versetzt ein Zeitsprung den Besucher unvermittelt in das Lebensgefühl dieses unverkennbaren Jahrzehnts. Er ist dabei – je nach Alter – ein Erinnernder oder ein staunend Lernender.“ Genau: Um das staunende Lernen geht es, denn das Staunen ist der Lohn, der zum Lernen verleitet.

Das habe ich in den letzten Monaten selbst immer wieder erfahren, als ich mit einem solchen Retroblick in die Geschichte des Göttinger Hauses Merkelstraße 3 geschaut habe und dabei auf Begebenheiten gestoßen bin, in denen sich die Geschichte der vergangenen 150 Jahre in einzelnen Schicksalen widerspiegelt. Hier wird Geschichte, lokale Geschichte, ein Mittel, sich selbst historisch und geographisch zu verorten, seinen eigenen Standpunkt zu bestimmen, Wurzeln zu finden, den Ausgangspunkt von längst wieder Geschichte gewordenen Veränderungen zu suchen.

Nein, ich bin nicht so naiv zu glauben, dass Retropartys den Sinn für Geschichte ersetzen. Aber sie zeigen beispielhaft, dass die Beschäftigung mit der Vergangenheit inzwischen andere Formen angenommen hat, dass offenbar der eigene Erlebnisfaktor dabei wichtig geworden ist. Die Untersuchung und Aufarbeitung von Fakten sind gewiss eine notwendige Grundlage, aber Menschen wollen heute mehr. Sie wollen den Zeitgeist spüren, ihn schmecken, ja versuchen, in ihn einzutauchen. Die zahllosen Mittelalterfeste sind ein Beispiel dafür, auch wenn sie mit dem wirklichen Mittelalter nicht sehr viel zu tun haben, vielleicht mehr mit dem Interesse von selbsternannten Kunsthandwerkern, ihre grob gearbeiteten, stinkenden Ledergürtel zu verkaufen. Aufschlussreich ist ebenso das Interesse der Gothic-Szene am viktorianischen Zeitalter, an Gründerzeit und Fin de siècle, aber auch an Schauerromanen sowie an Mythen und Sagen des Mittelalters. Vor wenigen Tagen gingen im Zusammenhang mit der Schlacht um Stalingrad Berichte durch die Medien, dass russische Jugendliche im Kellergeschoss des Stalingrader Kaufhauses, dem realen historischen Ort, die Gefangennahme von General Paulus nachgespielt haben: Rollenspiel als Eintauchen in die Geschichte also.

In seiner Dissertation untersucht der Leipziger Historiker Leonard Schmieding derzeit Jugendkultur und „triviales“ Geschichtsbewusstsein in der DDR. Sein Untersuchungsobjekt ist die Hiphop-Szene in der DDR. Seine These lautet: Eine Freiheitsnische, in der die Diktatur sie nicht belangte, fanden adoleszente Hiphopper in ihrer Selbstverortung in der Geschichte, indem sie sich durch ihre populärkulturellen Praktiken die Vergangenheit aneigneten und sich sogar dadurch dem durch die Diktatur ver¬ordneten Geschichtsbild entzogen. In seiner 2004 im Druck erschienenen Dissertation „Geschichtsbewusstsein im Jugendalter“ hat Carol Kölbl in einer empirischen Studie die Formen historischer Sinnbildung unter Jugendlichen analysiert, die in mancherlei Hinsicht äußerst komplex und spezifisch modern sind – im Gegensatz zu dem gängigen Stereotyp, dass das Geschichtsbewusstsein Jugendlicher sich in einem beklagenswerten Zustand befinde. Dieses oft monierte Defizit dürfe keineswegs verallgemeinert werden. Kölbl schreibt: „In Geschichte verstrickt sind die von mir befragten Jugendlichen dann und insofern sie sich selbst als von Geschichte in vielfältiger Weise berührt, mehr noch: durchdrungen erleben. Dies ist stets dann der Fall, wenn sie sich für bestimmte historische Phänomene begeistern, sich vor ihnen fürchten, sie besser zu verstehen suchen, jedenfalls eine intensive Auseinandersetzung mit ihnen suchen. Ganz gewiß ist dies ebenso dann der Fall, wenn es beim adoleszenten Nachdenken und Sprechen über Historie um Aspekte der eigenen, mit Geschichte verwobenen Identität geht.“

Und damit bin ich gar nicht mehr so pessimistisch, dass auch die nächste Journalistengeneration – egal in welchem Medium – den Blick in die Zeit ihrer Eltern, Großeltern oder Urgroßeltern richten wird. Ich bin sicher, dass sie dabei feststellen, dass von denen eine ganze Menge ziemlich cool war und dass sie vielleicht auch heute noch angesagt sein könnten. Darauf freue ich mich. Selbst wenn ich es nicht mehr erleben sollte.