ALEXANDERPREIS 2017 PLATZ 1 - Eric Angermann/Eva Klay/Julia Kopp/Jan C. Oestreich/Jennifer Stümpel/Tobias Trutz: Verdrängt – Verfolgt – Vergessen
Das „Judenhaus“ Weender Landstr. 26 und seine BewohnerInnen

Schriftenreihe der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit Göttingen, Heft 6

Ein Parkplatz der Universität
Das Haus Weender Landstraße 26 existiert nicht mehr. Wer heute dort entlangfährt, findet an seiner Stelle einen Parkplatz der Universität. Nichts erinnert mehr an das Gebäude sowie seine einstigen Be-wohner und Bewohnerinnen.
Dabei ist der in Vergessenheit geratene Ort in seiner Funktion als „Judenhaus“ – wie das Gebäude im Nationalsozialismus genannt wurde – ein Symbol für die Verdrängung und Verfolgung der jüdischen Bevölkerung Göttingens. Darüber hinaus – das wollen wir ebenfalls zeigen – war es aber auch ein Ort der Selbstbehauptung der früheren jüdischen Gemeinde.

Ein neues Gemeindehaus: Selbstbehauptung unter Verfolgungsdruck
Im Jahr 1934 erwarb die jüdische Gemeinde die Immobilie Weender Landstraße 26 von der Gauß-Weber-Loge zu Göttingen, die sich unter dem politischen Druck der Nationalsozialisten zum Verkauf ihres Logenhauses gezwungen sah. Es sollte zukünftig als Zentrum des kulturellen und sozialen Lebens der zunehmend bedrängten jüdischen Gemeinde dienen. Die Schaffung eines Gemeindehauses wurde notwendig, nachdem es immer schwieriger geworden war, für die Veranstaltungen der jüdischen Verei-ne und Wohlfahrtseinrichtungen in privaten Gasthäusern Räume anzumieten. So kam es bei Konzerten und Vorträgen, die für die Gemeindemitglieder gedacht waren, wiederholt zu Störungen.
Die Einweihung des Gemeindehauses wurde feierlich begangen, und in der Folge fanden dort die kultu-rellen Veranstaltungen der Göttinger Ortsgruppe des jüdischen Kulturbundes statt. So wurden in dem Saal des Hauses Konzerte und Vorträge ausgerichtet sowie Preisskatabende und Feierlichkeiten zum Schulabschluss. Zudem fanden religiöse Veranstaltungen nicht nur in der Synagoge, sondern auch an diesem Ort statt. Für die Konzerte und Vorträge wurden Musiker und Redner von auswärts geladen, sodass in dem Gemeindehaus neue Kontakte und Bekanntschaften entstehen konnten.
Zvi Hermon, gebürtig Hermann Ostfeld, der in den Jahren von 1935 bis 1938 Rabbiner der Göttinger Gemeinde war, berichtet von den Konzerten, die als Momente der Zuflucht vor dem Alltag der Unterdrü-ckung dienten, so schreibt er im Rückblick:

„Heute ist kaum zu verstehen, daß wir uns damals der Absurdität unserer Situation gar nicht recht bewußt wa-ren. Wir waren von der deutschen Gesellschaft ausgestoßen. Uns war der Zutritt zu den Konzert- und Theater-sälen nicht erlaubt: „Für Juden kein Eintritt!“ Das änderte nichts daran, daß wir all das für einige Stunden ver-gessen konnten, um unser Zusammensein und die Musik zu genießen“ (Hermon, S. 144).

Doch selbst bei diesen Veranstaltungen war die jüdische Gemeinde nicht gänzlich ungestört. Immer waren zur Überwachung zwei Polizeibeamte anwesend. Jede Veranstaltung war vorher anzumelden und musste von der Ortspolizei unter Rücksprache mit der Gestapo genehmigt werden.
Zvi Hermon beschreibt die beklemmende Situation:

„So waren auch die kleinen und die großen Freuden, die man erlebte, andauernd von der großen, schwarzen Drohung überschattet, die dann jenseits aller Befürchtungen und Vorahnungen grausamste Wirklichkeit wurde“ (Hermon, S. 109).

Die Phase, in der das Haus als Gemeindehaus gedient hatte, zeigt, dass das jüdische Leben unter dem Nazi-Regime nicht nur aus tapferem Erdulden und Ertragen bestand. Bemerkenswert ist auch, wie es den jüdischen Bürgern in dieser Zeit der Verdrängung und Verfolgung gelang, ihr soziales und kulturel-les Gemeindeleben aufrecht zu erhalten. Um es mit den Worten Zvi Hermons zu sagen:

Es waren „[...] die letzten Strahlen einer untergehenden Sonne, in deren Wärme das deutsche Judentum vor-her geblüht hatte“ (Hermon, S. 101).

Verwandlung in einen Zwangswohnort
Die Weender Landstraße 26 sollte nicht das Zentrum jüdischen Gemeindelebens bleiben. Im Zuge der sich verschärfenden Verfolgung wurde es zum zwangsweisen Wohnort vieler jüdischer Menschen. Ein Plan der Synagogengemeinde, hier ein Altersheim einzurichten, wurde vom NS-Regime für seine Zwecke instrumentalisiert.
Das „Gesetz über die Mietverhältnisse mit Juden“ (Deutsches Reichsgesetzblatt I 1939, S. 864ff.) vom 30. April 1939 erlaubte es „arischen“ Vermietern, jüdischen Mietern und ihren Familien fristlos zu kündi-gen und sie aus ihren Wohnungen zu vertreiben.

„Es kann diesen neun arischen Mietern nicht zugemutet werden, daß sie mit den Juden zusammen in einem Haus wohnen [...]“ (Schäfer-Richter/Klein, S. 262).

So heißt es im Brief eines Kreisleiters vom September 1940 an die Familie Wagner, der ihre Verdrän-gung ins „Judenhaus“ Weender Landstraße 26 ankündigt.
So waren insgesamt 42 Menschen ab 1940 gezwungen, das sogenannte „Judenhaus“ in der Weender Landstraße 26 zu beziehen. Die Zahl der meist älteren Bewohner und Bewohnerinnen schwankte in dieser Zeit zwischen neun und 26 Personen, die sich die drei Etagen teilen mussten. Den Einweisun-gen, die in zwei Wellen erfolgten, waren häufig schon mehrere Umzüge vorausgegangen.
Zu Beginn der vierziger Jahre bildeten sich, mehr oder weniger verordnet, im deutschen Reichsgebiet eine Vielzahl sog. „Judenhäuser“, beispielsweise das Haus der Familie Lilienthal in Bovenden im Feldtorweg 205, die Häuser in der Weender Landstraße 5b oder in der Oberen Maschstraße 10 in Göttingen.
Der Umzug in „Judenhäuser“ war für die Betroffenen mit vielen Entbehrungen verbunden. Sie sahen sich oft dazu gezwungen, den Großteil ihres Eigentums zu niedrigen Preisen zu verkaufen, denn auf-grund des Platzmangels konnten sie nur das Nötigste mitnehmen. Familien und Einzelpersonen waren genötigt, auf engstem Raum zusammenzuleben, Sanitäranlagen und die spärlichen Brennstoffvorräte zu teilen. Die schlechten hygienischen Zustände und die unzureichende Lebensmittelversorgung führten zu Unterernährung und begünstigten den Ausbruch von Krankheiten.
Quellen, die uns einen tieferen Einblick in das Alltagsleben der Bewohner geben würden, sind nicht überliefert. Einen Eindruck vermitteln mag aber die Beschreibung eines ehemaligen Bewohners eines sog. „Judenhauses“ in Hannover. Er sagte im Ermittlungsverfahren gegen einen ehemaligen Gauleiter aus, die Lebensbedingungen im „Judenhaus“ seien

„unbeschreiblich, Männer und Frauen, jung und alt, Verheiratete und Unverheiratete wurden in einem Raum oder Saal untergebracht. Jeder war gezwungen, sich in dem Raum an- und auszukleiden, zu waschen und zu kochen“ (Buchholz, S. 91).

Die Bewohner des Hauses lebten mit der ständigen Angst vor Hausdurchsuchungen, der Gewalt der Gestapo, Verhaftung und Deportation. Viktor Klemperers Tagebuch gilt heute als wichtiges Zeugnis der Verfolgung. Er beschreibt darin unter anderem seine allgegenwärtige Furcht vor der Gestapo in einem Dresdner „Judenhaus“:

„[Ich denke] im Aufwachen: Werden ‚sie‘ heute kommen? [...] Beim Waschen und Rasieren: Wohin mit der Sei-fe, wenn ‚sie‘ jetzt kommen? [...] Dann die Entbehrung der Zeitung. Dann das Klingeln der Briefträgerin. Ist es die Briefträgerin oder sind ‚sie‘ es? Und was bringt die Briefträgerin? Dann die Arbeitsstunden. Tagebuch ist le-bensgefährlich. [...] Irgendein Auto rollt alle paar Minuten vorbei. Sind ‚sie‘ es“ (Klemperer, S. 215)?

Max Lilienthal, gelernter Schlachter aus Bovenden und Kriegsversehrter des Ersten Weltkriegs, schreibt im Rückblick, dass man in Göttingen bereits im Oktober 1941 den Abtransport in Konzentrationslager befürchtete. So ließen Lilienthal und seine Familie eine große Anzahl an Wertsachen und persönlichen Gegenständen des Nachts von nicht jüdischen Bekannten abholen und vor der SS verstecken. Im un-gewissen Falle der Rückkehr, so hatte man sich verständigt, sollten diese Dinge wieder in Besitz ge-nommen werden können.

Vertreibung, Deportation, Tod – und Überleben
Die Lebenswege der Menschen, die im „Judenhaus“ eine Zwangsgemeinschaft bildeten, waren vielfältig. Einige wenige möchten wir hier erwähnen.
Unter den aus dem sog. „Judenhaus“ Deportierten war beispielsweise der bereits genannte aus Polen stammende Altwarenhändler Adolf Aaron Wagner mit seiner Frau Hanna und der jüngeren Tochter Sonja, die am 26. März 1942 ins Warschauer Ghetto verschleppt werden. Sonja ist zu diesem Zeitpunkt gerade 12 Jahre alt. Von der Familie fehlt seit der Deportation jede Spur, sie gilt als unbekannt verschol-len (Schäfer-Richter/Klein, S. 262).
Die Familie von Max Meyer Meyerstein, einem angesehenen Kaufmann aus Bremke im Landkreis Göt-tingen, erfuhr dasselbe Schicksal. Am Vormittag des 10. November 1938 stürmen plötzlich Angehörige der SS das Haus der Familie, in dem sich Meyerstein gerade mit seiner Frau Betty, einer Schwiegertoch-ter und einer Enkelin befindet. Möbel und Haushaltsgegenstände werden zerstört und auf die Straße geworfen, bevor der Bremker Ortsgruppenführer der gewaltsamen Plünderung ein Ende setzt. Im Sep-tember 1939 zieht der inzwischen 82-jährige Meyerstein mit seiner Frau nach Göttingen, wo auch einer der Söhne mit seiner Familie lebt. Am 28. März 1942 wird das Ehepaar ins „Judenhaus“ in der Weender Landstraße 26 verdrängt. Max und Betty Meyerstein verbleiben bis zum 21. Juli 1942 im „Judenhaus“ und werden anschließend über das Sammellager Hannover-Ahlem nach Theresienstadt deportiert. Dort stirbt Max Meyer Meyerstein am 26. Mai 1943 im Alter von 86 Jahren (Schäfer-Richter/Klein, S. 178ff.). Seit Februar 2016 erinnern Stolpersteine vor dem Haus Rote Straße16 an die Familie Meyerstein.
Bertha Müller, geborene Ruhmann, hat die Torturen der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik überlebt. Gemeinsam mit ihrem Mann, dem Kaufmann Selmar Müller, zieht sie im Mai 1941 in die Weender Landstraße 26, um dort die Pflege der älteren BewohnerInnen und die Leitung des Hauses zu übernehmen. Selmar Müller wird unterdessen bereits im März 1942 ins Warschauer Ghetto deportiert und kehrt von dort nicht mehr zurück. Bertha Müller wird im Zuge der zweiten Deportation am 21. Juli 1942 in das Konzentrationslager Theresienstadt verschleppt. Als die Witwe im Juli 1945 nach Göttingen zurückkehrt, findet sie ihr Haus in Trümmern, während des Luftkriegs gefallene Bomben haben es zerstört. Im Oktober 1945 richtet Bertha Müller sich mit einem Schreiben an das britische Generalgouver-nement mit der Bitte, ihr ihre Möbel zurückzugeben, die zeitweilig von nationalsozialistischen Beamten beschlagnahmt worden waren. Etwa einen Monat später heiratet sie erneut, zieht nach Bremen und beginnt, sich dort allmählich ein neues Leben aufzubauen (Schäfer-Richter/Klein, S. 185f.).
Auch Max Lilienthal wurde am 21. Juli 1942 ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert, wenige Monate nach seiner Schwester Rosa, seinem Schwager und seiner Nichte.
Einer der Helfer Lilienthals erhielt in dieser Zeit einen Brief von einer weiblichen Person, die sich bemüht, ihre Identität zu verschleiern. Dieser Brief blieb bis heute erhalten und lässt den Schluss zu, dass Lilienthal von Theresienstadt aus wohl versucht hatte, zumindest finanzielle Hilfe von seinen einstigen nicht-jüdischen Helfern zu bekommen (Plesse-Archiv). Offenbar war es ihm möglich gewesen, Postkar-ten mit Hinweisen auf die Situation im Ghetto zu versenden. Die Verfasserin warnt jedoch den Empfänger ihres Briefes davor, auf die Mitteilungen Lilienthals zu reagieren. Unangenehme Konsequenzen für ihn und seine Familie seien zu befürchten, heißt es in diesem Brief. Darüber hinaus sei die Lage in den Lagern nicht so prekär, wie Lilienthal sie darstelle.
Max Lilienthal verlor seine Heimat, seinen Besitz, seine Freiheit und schließlich seine Angehörigen. Sie gelten als im Warschauer Ghetto verschollen. Geblieben war ihm sein Leben, das er nach seiner Rück-kehr nach Bovenden 1945 mühsam wieder aufbauen musste. Selbst die Rückgabe der persönlichen Habseligkeiten der Familie zog einen länger währenden Rechtsstreit sowie das persönliche Zerwürfnis mit seinen früheren Bekannten nach sich. Max Lilienthal wurde als Ratsherr seines Heimatortes tätig und trug zum Wiederaufbau der jüdischen Gemeinde Göttingen-Bovenden als Vorsitzender bei.

Ein neuer Anfang?
Max Lilienthal übernahm im Jahr 1956 den Vorsitz der jüdischen Gemeinde in einer weiterhin schwieri-gen Zeit. Die Göttinger Stadtverwaltung zeigte erhebliche Widerstände, als es darum ging, ein jüdisches Gemeindeleben wieder aufleben zu lassen. Allein beim Versuch, Besitzansprüche auf das Haus in der Weender Landstraße 26 geltend zu machen, begegnete man erheblichen Schwierigkeiten.
Die Stadt Göttingen hatte das Gebäude bereits 1943 von der sogenannten „Reichsvereinigung der Ju-den in Deutschland“ gekauft – einer Zwangskörperschaft aller in Deutschland lebenden Juden unter der Kontrolle von Himmlers Reichssicherheitshauptamt. Kurz nach der Deportation und Ermordung fast aller deutschen Juden wurde die Vereinigung dazu genötigt, jüdischen Besitz reichsweit zu verkaufen. Bald darauf wurde der Verbund zwangsaufgelöst und der gesamte erzielte Gewinn dem Reichssicherheits-hauptamt überschrieben. Wieder einmal bereicherte sich das NS-Regime an den Opfern des Holocaust.
In dem früheren „Judenhaus“ wurde alsbald eine Gestapostelle eingerichtet, und nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs beherbergte es eine Polizeistation.
Die zu diesem Zeitpunkt nur noch einige Dutzend Mitglieder zählende und stark verarmte jüdische Ge-meinde kämpfte dafür, jüdisches Leben in Göttingen wieder möglich zu machen. Dabei bemühte sie sich auch, das frühere Gemeindezentrum zurückzuerhalten. Doch die Stadtverwaltung baute extrem hohe Hürden. 1949 erklärte sie sich lediglich zu einem Verkauf des Hauses bereit – und zwar „gegen Erstat-tung des Kaufpreises, umgewertet in DM im Verhältnis 1:1“ (Brief Wohnungsverwaltung an Wiedergut-machungsamt Göttingen, 12.12.1949). 17.000 DM – eine für die jüdische Gemeinde nicht zu stemmen-de Summe!
Ihrem damaligen Vorsitzenden Richard Gräfenberg blieb nichts anderes übrig, als vor Gericht zu gehen. In einem Brief an das Wiedergutmachungsamt beim Landgericht Göttingen machte er 1950 auf den Zwangsverkauf des Hauses und den damit verbundenen „Raub am jüdischen Eigentum“ aufmerksam. Gräfenberg betonte, dass die Stadt Göttingen beim damaligen Kauf genau gewusst hatte, dass keine jüdische Institution von dem Geld profitieren würde, sondern nur ein weiteres Verbrechen bei der Ver-drängung und Vernichtung der jüdischen Mitmenschen geschehen sei. Er artikulierte seinen allgemeinen Unmut wie folgt:

„Die Stadt Göttingen ist bisher der Jüd. Gemeinde in keiner Weise entgegengekommen. Bis heute hat sie noch nicht den leisesten Versuch gemacht irgendwie zu einer gütlichen Einigung zu kommen. Die bescheidensten Forderungen der Jüd. Gemeinde an die Stadt, w. z. Bspl. Instandsetzung des Jüd. Friedhofes und Errichtung eines Gedenksteines am Platz der zerstörten Synagoge oder besser auf dem Jüd. Friedhof wurden abschlägig behandelt. Die Jüd. Gemeinde befindet sich in grosser Not und ist nicht im Stande ihren dringendsten Verpflich-tungen sozialer und kultureller Art (sic!) ihren verarmten Gemeindemitgliedern nachzukommen. Die Stadt hat bis jetzt der Jüd. Gemeinde kein Entgegenkommen gezeigt und die Gemeinde kann sich des Eindruckes nicht erwehren, als ob es der Stadt jetzt schon wieder unangenehm ist, dass sich in ihrem Bereich eine Jüd. Gemein-de befindet" (Gräfenberg: Brief an das Wiedergutmachungsamt Göttingen, 04.01.1950).

Die Rückerstattung des Hauses gelang nicht. Auch die vor 1934 dort ansässige Gauß-Weber-Loge erhob Anspruch auf das Haus und bekräftigte, dass sie die Immobilie ausschließlich unter dem Druck der Nationalsozialisten verkauft habe. Der mehrjährige Gerichtsprozess endete letztendlich 1952 mit einem Vergleich zwischen der Stadt, der Loge und der jüdischen Gemeinde. Diese erhielt von der Gauß-Weber-Loge 8 000 DM und ließ damit alle eigenen Ansprüche auf das Haus ruhen.
Die Gauß-Weber-Loge residierte im ehemaligen „Judenhaus“ bis 1963. Als die Universität in den 1960er-Jahren ihren nahe gelegenen Zentralcampus ausbauen ließ, wurde das Gebäude schließlich abgerissen (zwischen 1966 und 1968, der genaue Zeitpunkt lässt sich nicht mehr feststellen) und muss-te dem heute noch existenten Parkplatz weichen. Dies ließ die Geschichte des Hauses und seiner Be-wohnerinnen und Bewohner vollkommen in Vergessenheit geraten.
Mit unserer Veröffentlichung möchten wir als Studierende des Seminars für Mittlere und Neuere Ge-schichte gemeinsam mit der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit diesen Zustand än-dern. In Kooperation mit der Universität Göttingen wie auch der Stadt entsteht an Ort und Stelle ein Denkmal, das an das jüdische Gemeindeleben unter nationalsozialistischer Verfolgung erinnert, die Geschichte der „Judenhäuser“ als Teil der Shoah wachhält und auf das Versagen der damaligen Stadt-verwaltung hinweist, die jüdische Gemeinde nach Ende der NS-Herrschaft in angemessener Weise unterstützt zu haben.

Gegen das Vergessen: das „Judenhaus“ Weender Landstr. 26 (Stelen-Text, Vorderseite)
Hier stand ein Gebäude, das 1891 von der Gauß-Weber-Loge erbaut und bis zu ihrer unter dem NS-Regime erzwun-genen Selbstauflösung genutzt wurde. 1934 erwarb es die Jüdische Gemeinde Göttingen, da sie angesichts zuneh-mender Diskriminierung keine Räume mehr für ihre Veranstaltungen anmieten konnte.
Ab 1940 vertrieb die Gestapo, unterstützt von der Göttinger Stadtverwaltung, Menschen jüdischer Herkunft aus ihren Wohnungen und wies sie in sogenannte „Judenhäuser“ ein. Allein hier mussten 42 Menschen ohne Privatsphäre und unter schwierigen Versorgungsbedingungen leben.
1942 wurde die Mehrzahl der Bewohnerinnen und Bewohner in das Warschauer Ghetto, nach Theresienstadt, Auschwitz und an weitere Orte der Vernichtung deportiert. Kaum jemand überlebte.
Nach dem Krieg fand sich die Stadt Göttingen erst nach langen Verhandlungen bereit, das Haus zurückzugeben. Ein Rechtsstreit zwischen Stadt, Jüdischer Gemeinde und Gauß-Weber-Loge endete mit einem Vergleich und dem Erwerb des Hauses durch die Loge.
Bis zum Jahr 1968 war das Gebäude abgerissen. Damit verschwand ein sichtbares Zeichen für die Verdrängung und Verfolgung Göttinger Bürgerinnen und Bürger jüdischer Herkunft. An sie und ihr Leiden sei hier erinnert.
Shamor w‘Sachor. Bewahre und Erinnere.

Die BewohnerInnen des „Judenhauses“ Weender Landstraße 26 (Stelen-Text, Rückseite)

Frieda Arensberg, geb. Glück*
Karl Arensberg*
Jettchen Aschenberg, geb. Plaut
Max Meier Aschenberg
Cäsar Asser
Feigle Chaja (Fanny) Asser, geb. Lipschütz
Elsbeth Dallmann, geb. Rosen
Hedwig Gans, geb. Rosenthal
Johanna Gans
Ruth Gans
Isaak (Iwan) Goldberg
Anna Jacobsohn, geb. Rosenberg*
John Jacobson*
Helene (Linchen) Jacobson, geb. Katzenstein
Else Kaufmann, geb. Beschütz*
Hermann Kaufmann
lda Kaufmann
Johanna Kaufmann
Jacobine Levi
Rosa Levi
Ludwig Liepold
Max Lilienthal*
Berta Löwenstein
Rosalie Löwenstein, geb. Goldschmidt
Frieda Magnus, geb. Herzberg
Helene Mansfeld
Lucie Meininger, geb. Meyerstein
Adolf Meyenberg
Ida Meyenberg
Emma Meyer
Bertha (Betty) Meyerstein, geb. Oppenheim
Margarete Meyerstein
Max Meier Meyerstein
Rosa Meyerstein, geb. Rosenbaum

Bertha Müller, geb. Ruhemann
Luise Neuhaus, geb. Jacobsohn
Emma Paradies, geb. Hirsch
Karoline Piterson, geb. Rosenthal
Dora Robens, geb. Moses
Karl Robens
Adolf Rosenthal*
Rosa (Betty) Schiff, geb. Katz
Dora Spier, geb. Ehrlich
Hedwig Steinberg, geb. Strupp*
Martha Stern
Aaron (Adolf) Wagner
Chane (Hanna) Wagner, geb. Stromwasser
Sonja Wagner
Hannelore Zeckendorf
Bertha Zunz, geb. Meyenberg

Quellen und Literatur
Buchholz, Marlis: Die hannoverschen Judenhäuser. Zur Situation der Juden in der Zeit der Ghettoisierung und Verfol-gung 1941 bis 1945, Hildesheim 1987.
Deutsches Reichsgesetzblatt I 1939, URL: http://alex.onb.ac.at/cgi-content/alex?apm=0&aid=dra&datum=19390004&seite=00000864&zoom=2 [Stand: 16.02.2016].
Gräfenberg, Richard: Brief an das Wiedergutmachungsamt beim Landgericht in Göttingen, 04.01.1950, in: Stadtarchiv Göttingen, Sammlung Rechtsamt C 34 Nr. 14.
Hermon, Zvi: Vom Seelsorger zum Kriminologen. Rabbiner in Göttingen, Reformer des Gefängniswesens und Psycho-therapeut in Israel. Ein Lebensbericht, Göttingen 1990.
Klemperer, Victor: Tagebucheintrag vom 20. August 1942, in: Ders.: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebü-cher 1942–1945, Berlin 1995.
Kriedte, Peter: Die Rabbinerin Regina Jonas und das jüdische Altersheim an der Weender Landstraße. Ein Kapitel aus der Geschichte der Göttinger Synagogengemeinde in der Zeit der Verfolgung und Vernichtung, in: Göttinger Jahrbuch, Band 63, Göttingen 2015, S. 185–238.
Plesse-Archiv, Bovenden, Signatur B 28 1–5.
Schäfer-Richter, Uta/ Klein, Jörg: Die jüdischen Bürger im Kreis Göttingen 1933–1945. Göttingen, Hann. Münden, Duderstadt. Ein Gedenkbuch, Göttingen 1992.
Schäfer-Richter, Uta: Versäumtes Gedenken? Das Göttinger „Judenhaus“ Weender Landstraße 26, in: Gottschalk, Carola (Hg.), Verewigt und vergessen. Kriegerdenkmäler, Mahnmale und Gedenksteine in Göttingen, Göttingen 1992, S. 142–150.
Wohnungsverwaltung Stadt Göttingen: Brief an das Wiedergutmachungsamt beim Landgericht in Göttingen, 12.12.1949, in Stadtarchiv Göttingen, Sammlung Rechtsamt C 34 Nr. 14.