Groner Landstraße 9

Laudatio von Sven Grünewald zum 1. Preis an Jörn Barke

Den  prämierten Text finden Sie hier.

Sehr geehrte Damen und Herren,

Jörn Barke ist bei der Alexanderstiftung kein Unbekannter, sondern im Gegenteil regelmäßiger Preisträger und damit ausgewiesener Kenner vieler kleiner und großer Göttinger Geschichten. Mit seiner Reportage Groner Landstraße 9: „Bunker, Schicksal, keine Hoffnung“? fand er erneut bei der Jury großen Anklang und wurde entsprechend mit dem ersten Preis ausgezeichnet.

Anlass der Reportage ist ein Totschlag gewesen, der sich in dem Hochhaus ereignet hatte und damit in drastischer Weise unterstrich, dass Polizei- und Feuerwehreinsätze in der Immobilie die Regel sind.
Dabei weckte die Befassung mit der „Nummer 9“ auch persönliche Erinnerungen beim Autor, nämlich an die Zeit, als er selbst zum Studium nach Göttingen kam, Anfang der 90er Jahre. Die Groner Landstraße war einer seiner ersten Eindrücke und eine unvermeidbare Anlaufstelle. Auch, wenn er schließlich woanders einzog.

Barke schreibt: „Baby-Boomer-Generation und Grenzöffnung hatten dafür gesorgt, dass die Studentenzahl zu diesem Zeitpunkt auf fast 32.000 gestiegen war.“ Weit mehr als die über 26.000 Studenten im gerade zuende gegangenen Wintersemester – die bereits mit argen Problemen bei der Wohnungssuche zu kämpfen hatten. Optisch unterschied sich der Gebäudekomplex nicht von heute, sagt Barke. „Er hatte allerdings noch längst nicht den düsteren Ruf, sondern war eher ein Durchlauferhitzer für Studenten, die erst einmal irgendwo unterkommen mussten.“ In dem Maße, wie die Wohnungssuche einfacher wurde, verkam jedoch auch das Gebäude.

Die heutige Situation ist die eines Ortes, den man besser umgeht. In Internet-Foren wird davor gewarnt, was trotzdem nicht verhindert, dass „so ziemlich jeder Erstsemester den Fehler mache, dort eine Wohnung zu besichtigen und dann verstört zu fliehen“, zitiert Barke die unter Pseudonym bloggende Mirka von Lilienthal. Sie hatte dem Gebäude einen Besuch abgestattet, um aus erster Hand von ihren Erfahrungen zu berichten. Die fallen insgesamt nicht positiv aus. Müll und ausgetretene Kippen in den Fluren, klebriger Untergrund, ein muffiger Geruch noch dazu. Barke selbst kommt bei seinem Besuch an drei Alkoholikern vorbei, deren Gespräch sich gerade um Haschisch und Kokain dreht. Schmierereien an den Wänden. „Bunker, Schicksal, keine Hoffnung“ steht auf einer Wand und scheint damit die Stimmung in der Nummer 9 vollumfänglich wiederzugeben.

Jörn Barke nimmt sich auf einer ganzen Zeitungsseite viel Raum, um die Gebäudesituation lebendig werden zu lassen. Und in der Tat hat man beim Lesen immer wieder den Eindruck, den Autoren beim Gang durch die dunklen Flure und an zahlreichen Bewohnern vorbei zu begleiten. So ist denn auch das Lesevergnügen trotz des schweren Themas ein kurzweiliges.
Doch bleibt der Artikel natürlich nicht bei dieser oberflächlichen Betrachtung stehen. Er verweist auch auf die Bemühungen der Göttinger Hausverwaltung, den Gesamtzustand zu verbessern. Auch die Stadt hat sich eingebracht und einen runden Tisch ins Leben gerufen, um unter anderem mit Polizei, Hausverwaltung und Vertretern aus der Nachbarschaft der Nummer 9 über Verbesserungsmöglichkeiten, insbesondere für die Kinder, zu sprechen. Allerdings ist die Gesamtsituation nicht einfach: In 432 Ein- und Zweizimmerwohnungen leben etwa 700 Menschen auf engem Raum. Und die Besitzverhältnisse sind kompliziert, denn der Komplex gehört knapp 250 unterschiedlichen Eigentümern, teilweise von außerhalb.
Die Perspektive für den Hochhauskomplex ist ungewiss und entsprechend verzichtet Barke darauf, einen Zukunftsausblick zu geben. Sein Augenmerk liegt klar und differenziert auf dem Ist-Zustand, den Schattenseite und den Lichtblicken. Die Beobachtungen des Autoren sprechen für sich, auf Wertungen jenseits seiner subjektiven Erfahrungen verzichtet er.

Die Relevanz des Themas – und das war einer der maßgeblichen Gründe für die Prämierung – möchte ich insbesondere betonen. In Deutschland befinden wir uns seit Jahren – wenn man es an einem Einschnitt festmachen will, dann mit der Einführung der Hartz-Gesetze – in einer Zeit zunehmender Massenverarmung. Dass Hartz-IV kaum zum Leben ausreicht, eine gesellschaftliche Teilhabe fast ausschließt und oft mit einem rigiden Überwachungsregime seitens der Arbeitsagenturen verbunden ist, ist hinlänglich bekannt. Die Groner Landstraße 9 ist ein Spiegel dieser Entwicklung: etwa 60% der Bewohner sind Hartz-IV-Empfänger. Es ist in meinen Augen wichtig, dass man sich dieser Problematik stellt und sie nicht ausblendet. Das erreicht Barke mit seiner eindringlichen Schilderung, wenngleich die Einbettung in den gesellschaftlichen Kontext – Nummer 9 ein Spiegel der Armut – leider keinen Raum bekommt.
Gleichsam interessant wäre auch gewesen, die Verbindung zum Iduna-Zentrum und die Auseinandersetzung mit den Hintergründen der Großbauten herauszuarbeiten. Denn beide prägen das Bild unserer Stadt, die an Bausünden ohnehin nicht arm ist. Wieso wurden ohne Not und aus dem idyllischen Charakter der Stadt dermaßen ausbrechende Betonburgen errichtet, die man aufgrund der schwierigen Eigentümerverhältnisse heute praktisch nur noch durch ein Erdbeben loswerden kann? Aber das ist vermutlich ein großes Thema für einen ganz anderen Artikel.

Barke schließt mit einem kleinen, positiven Ausblick: In der Tiefgarage entdeckte er ein Bild: „Mit gelber und grüner Kreide hat jemand dort eine Sonne auf eine Betonwand gemalt. Daneben steht: Die Sonne strahlt nur für dich.“
Das Prinzip Hoffnung, ein überaus Lebendiges.

Herr Barke, einen herzlichen Glückwunsch zu Ihrem Artikel und dem ersten Platz.