Merkelstraße 3

Laudatio von Heinz-Peter Lohse zum 2. Preis an Michael Schäfer

Den prämierten Text finden Sie hier.

Sehr geehrte Damen und Herren,   

ein altes Haus hat einen neuen Besitzer. Das war die aktuelle Nachricht. Nicht gerade spektakulär.

Interessanter ist so eine Nachricht schon, wenn es sich um ein besonderes Haus handelt. Um ein besonders großes, ein besonders schönes oder einbesonders bekanntes. Oder wenn es ein nicht alltäglicher Besitzerwechsel ist, nicht ein simpler Verkauf und Kauf.  So wie bei dem Haus Merkelstraße 3 in Göttingen. Die früheren Eigentümer, sie sind auch vielenGöttingern in Erinnerung, nicht unbedingt in guter,gaben das Haus nicht freiwillig her. Es wurde als Folge der Firmeninsolvenz zwangsversteigert.  Den neuen Eigentümer kennen vielleicht noch nichtso viele. Er hat jedoch einen tadellosen Ruf. 

Für Michael Schäfer, Redakteur beim Göttinger Tageblatt, war dieser Eigentümerwechsel Auslöser,mal etwas in der Vergangenheit zu bohren. Er machtesich daran, die Geschichte des Hauses Merkelstraße 3 zu erforschen und aufzuschreiben. 

In sieben, für das Format Tageszeitung rechtausführlichen Folgen berichtet er diese Geschichte.Grundlage seiner Artikel sind Recherchen in Archiven,alten Adressbüchern und Büchern zur Göttinger Stadtgeschichte, sowie Gespräche mit Historikern undZeitzeugen. Diese liefern ihm die Namen der Bewohner. Und Namen, das ist eine bekannte journalistischeWeisheit, sind Nachrichten - und Geschichten. Bereichert werden die Recherchen durch Erinnerungen, die Schäfers Leser nach den erstenFolgen spontan beisteuern.  
Merkelstraße 3 beschreibt Schäfer als vom Erscheinungsbild her eines der „besseren“ Häuser inGöttingen. Es ist eine Villa. Eine Villa mit einer bewegten Geschichte. Michael Schäfer erzählt dieseauf unterschiedlichen Ebenen.  

Zum einen versetzt er die Leser in die Zeit der Entstehung des Hauses, in das Jahr 1907. Wie andere Städte hatte Göttingen schon viele Jahredavor eine Phase des Aufbruchs erlebt.  Schäfer erwähnt den Bau des Bahnhofs, 1854, vor den Mauern der Stadt. Dieser erleichterte, so Schäfer, Reise und Handel. Immer mehr Menschen wollten aber auch in der Stadt leben, das alte Stadtgebietinnerhalb der Wälle wurde zu eng.   
Also wurden neue Baugebiete außerhalb der altenStadtmauern erschlossen. Die Flächen dort waren bislang überwiegend landwirtschaftlich genutztworden, das Wegenetz war diesen Ansprüchenentsprechend gewachsen. Hier war Platz, hier konntegroßzügig gebaut werden.  

So auch in der Merkelstraße 3. Die, so berichtet Schäfer, hieß 1907, im Baujahr der Villa, allerdings noch Waldstraße. Zur Merkelstraße wurde sie erst 1916.  Die neue Wohngegend Waldstraße/Merkelstraße giltschon damals als gute Adresse, hier bauenFabrikanten/Unternehmer, Professoren, Pensionäreund höhere Beamte.  
Auch das Haus in der Merkelstraße 3 wird von Unternehmern gebaut, von Friedrich und Carl Krafft,Inhaber des Baugeschäftes „Gebrüder Krafft“.Anfangs lebt in der Villa ausschließlich der Hausmeister. Doch schon bald kommen weitere Mieter hinzu. Die Bewohner des Hauses wechseln.
 
Irgendwie scheint das Haus Mieter anzuziehen, diezwar komfortables Wohnen schätzen, die geschäftlichaber nicht immer ein glückliches Händchen haben.  
Erwähnt sei Senator Kaufmann, der 1912/13 aufkommunaler Ebene „vormacht“, was heute im großenStil die Wirtschaft weltweit erschüttert. Eine Göttinger Bank und eine Baufirma schätzen damals den lokalen Markt falsch ein und müssen Konkurs anmelden.  
In den zwanziger Jahren dann sind die Bewohner des Hauses wirtschaftlich erfolgreich. Allerdings kommtihnen in den dreißiger Jahren die Politik in die Quere.Die Nationalsozialisten verfolgen und vertreiben dieEigentümer wegen ihrer jüdischen Abstammung. Es kommt zur Zwangsenteignung. Auch in Göttingen einerschütterndes Kapitel Zeitgeschichte. 

In der Nachkriegszeit teilt die Merkelstraße 3 das Schicksal vieler anderer Häuser. Flüchtlinge werdeneinquartiert, die Besatzungsmächte nutzen es jahrelang als Dienststelle, bevor es wieder Wohn- bzw. Bürohaus wird. In der Folge richtet sich dieVolkshochschule zeitweise hier ein; eine Studenten-WG weiß die großzügigen Räumlichkeiten ebenfalls zu schätzen. Dann kommen Steuerberater und Rechtsanwälte, die das Haus kaufen und es zu ihrer Geschäftsadresse machen. Stichwort Göttinger Gruppe. Das ist nicht nur eine unglückliche, sondern auch eine unendlicheGeschichte. Die Gruppe ist irgendwann pleite, das Haus wird 2007 zwangsversteigert. 

In der letzten Folge seiner Serie erzählt MichaelSchäfer das glückliche Ende: Merkelstraße 3 wurdevom neuen Eigentümer umfassend renoviert und istjetzt Sitz eines Fachverlages.  Ich fasse zusammen: Aktueller Auslöser für die Serie in der Tageszeitungwar die Nachricht über die neue Nutzung eines altenGöttinger Hauses. Diese wurde zum Anlass genommen, die Geschichte des imposantenGebäudes und die seiner Bewohner zu erzählen. 

„Villa Merkelstraße 3“ ist einerseits die „Geschichte eines Hauses“, wie es im Untertitel der Serie steht. Durch die vielen kleinen Geschichten über die Bewohner des Hauses wird in der Serie andererseits auch ein Stück Stadtgeschichte in journalistischaufbereiteter Form erzählt.  Die Jury zeichnet die Tageblatt-Serie von MichaelSchäfer mit einem Zweiten Preis aus.