Laudatio für Frau Deike Diening von Sven Grünewald

„Ahn und Ähnlichkeit“, erschienen im Tagesspiegel am 4. Februar 2012

Sehr geehrte Damen und Herren,

wer sind wir, wo kommen wir her? Ein Jeder als Individuum, wir alle als Kultur – die Geschichtswissenschaft und die Namensforschung ziehen einen großen Teil ihrer Faszination aus dieser Frage.

P1050749Zum Beispiel: Vor 1000 Jahren wurde Island besiedelt – eine ungemein spannende Zeit. Vor 2000 Jahren, mehr oder weniger, wurde Jesus geboren – eine ungemein folgenreiche Zeit. Und vor 3000 Jahren, als die Pyramiden schon alt waren, lebte eine Gruppe Bronzezeitler in der Nähe der Lichtensteinhöhle nahe Osterode, die Höhle diente als Familiengrabstätte – ein eher unspektakuläres Ereignis?

Südniedersachsen bringt ja immer mal wieder bundesweite Schlagzeilen hervor – im Guten wie im Schlechten, seien es Organspendeskandale oder eben Faszinosa wie der Fund in der Lichtensteinhöhle, der über eine DNA-Probe von Manfred Huchthausen aus Förste schlagartig berühmt wurde. „Wie standen auch die Chancen, dass sich in seiner Mundhöhle eine Verbindung zur Lichtensteinhöhle herstellen ließe?“, schreibt die Autorin. Die vermutlich ältesten Familienbande weltweit waren gefunden. Seit 2007 beeindruckt dieser Umstand, dass nach 3000 Jahren immer noch Nachfahren neben den Vorfahren wohnen.

Auch Deike Diening nahm sich des Themas an und warf im Tagesspiegel einen Blick auf Manfred Huchthausen, der in Förste geboren wurde und nach Ausbildung und Studium wieder dorthin zurückgekehrt war. Huchthausen ist mit allergrößter Wahrscheinlichkeit ein Nachfahre der bronzezeitlichen Familie. So, wie auch über 100 weitere Personen aus den Nachbardörfern.

Bereits die wohlformulierte Überschrift des Artikels „Ahn und Ähnlichkeit“ eröffnet das breite Spannungsfeld, dem sich die Autorin versucht zu nähern. Mit sprachlich federleichtem Schritt lässt Diening zunächst die Vorgeschichte Revue passieren – der Fund in der Höhle, die Routine der DNA-Untersuchung und dann das Finden einer seltenen Sequenz auf dem Y-Chromosom, welche die Forscher „elektrisierte“ und zum Aufruf in den umliegenden Dörfern führte, DNA-Proben abzugeben.

Das fast Unfassbare, die Verwandtschaft Huchthausens mit den seit 3 Millennien Toten, bringt Deike Diening auf die illustre Formel: „Der Apfel war sagenhafterweise in 3000 Jahren 120-mal direkt neben den Stamm gefallen.“

Doch was bedeutet es für das Individuum, auf die Frage nach dem „Woher?“ eine so unerwartete Antwort präsentiert zu bekommen? Was heißt es im Hier und Jetzt, seine bisherigen Nur-Nachbarn als „neue“ Verwandte begrüßen zu können?

Diening schreibt dazu: „All diese merkwürdigen Verwicklungen haben die Huchthausens veranlasst, über Verwandtschaft nachzudenken, über Völker und deren Wanderung. Ihr eigenes Leben, so zufällig es bislang erscheinen mochte, fügte sich nun nahtlos in eine tausende Jahre alte Fortsetzungsgeschichte. Offenbar hatte sich ihr Leben in Kreisen vollzogen, es war eine ewige Geschichte vom Ausziehen und Wiederkehren.“

Solcherart erzählt Deike Diening eine Geschichte, überwiegend die Geschichte Manfred Huchthausens, aber auch seiner Ehe, wie es ihn wieder nach Förste zurückgeführt hat und wie sich der Kreislauf der Heimattreue vollzieht, der inzwischen eine 3000-jährige Kontinuität aufweist.

In der Normalität des Harzvorlandes werden die großen, zeitlosen Fragen Realität. Die Autorin trägt dem Rechnung, indem in eher philosophisch angehauchten Passagen der Leser selbst zum Nachdenken angeregt wird, etwa wenn sie schreibt: „Menschen, die in ihrem Leben nach Erklärungen suchen, finden einige im Stammbaum.“ Und einige Zeilen weiter: „Ist dann die boomende Ahnenforschung eine verkappte Sinnsuche?“ Oder eine „Suche nach der eignen Bedeutung“, wie sie später schreibt?

Gerne hätte man mehr erfahren – zum Beispiel und naheliegenderweise von Manfred Huchthausen. Als Leser wünscht man sich häufiger, von Huchthausen selbst in O-Ton und wörtlicher Rede seine Perspektiven zu erfahren, ist er schließlich in einer einmaligen Situation. Jedoch ist es nicht Dienings Sache, ihre Gesprächspartner selbst in Erscheinung treten zu lassen. Diening erzählt eine Geschichte, stellt ihren – ganz eigenen, subjektiven – Blick auf Huchthausen und die elementaren Fragen nach Sein und Sinn in den Vordergrund. Und sie tut es sprachlich meisterhaft.

Kaum begonnen, fliegt der Text an einem vorüber und ehe man sich versieht, ist der Schlussgedanke erreicht. Es ist das hervorstechende Merkmal des Textes, dass er Inhalte in wohlklingender Sprache mit gutem Rhythmus transportiert. Viele sprachliche Details und griffige, dabei aber immer originelle Phrasen lassen das Lesen zu einem Vergnügen werden und offenbaren ein Niveau der Sprachbeherrschung, das einem, man muss es leider sagen, viel zu selten begegnet.

Von daher war es einhellige Meinung der Jury der Alexander-Stiftung, den Artikel von Deike Diening mit dem ersten Preis auszuzeichnen.

Einen herzlichen Glückwunsch dafür.

Sven Grünewald